§ 102 BetrVG – Sinn des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei Kündigungen

Die Reichweite der Beteiligungsrechte des Betriebsrates hängt maßgeblich von der zugrunde liegenden Maßnahme ab. Die Rechte des Betriebsrates reichen dabei von einem einfachen Anspruch auf Information, über Anhörungsrechte, Zustimmungsverweigerungsrechte bis hin zur zwingenden Mitbestimmung.

Die Mitwirkung des Betriebsrates bei Kündigungen

§ 102 BetrVG sieht vor, dass der Betriebsrat vor jeder Kündigung angehört werden muss. Eine Kündigung die ohne vorhergehende Anhörung ausgesprochen worden ist, ist unwirksam (§ 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Der Betriebsrat kann der ordentlichen Kündigung eines Arbeitnehmers widersprechen. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei also um ein sehr starkes Mitwirkungsrecht. Jedoch ist es auch so, dass der Widerspruch des Betriebsrats den Arbeitgeber nicht daran hindert, die Kündigung doch auszusprechen. Dies führt dazu, dass das Widerspruchsrecht auf den zweiten Blick in der Praxis oft als „zahnloser Tiger“ betrachtet wird. Dass dies nicht zutrifft, erkennt man, wenn man die Regelung im Kontext eines Kündigungsschutzverfahrens betrachtet.

Es lohnt ein Dritter Blick!

Dazu ist es wichtig, die Wirkung des Widerspruchs zu kennen. Gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG hat der gekündigte Arbeitnehmer einen Weiterbeschäftigungsanspruch, wenn der Betriebsrat der Kündigung widersprochen hat. Erhebt der gekündigte Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage, so kann er vom Arbeitgeber verlangen, im Betrieb weiter beschäftigt zu werden, bis das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen worde ist.
Ein Kündigungsschutzverfahren kann mehrere Monate dauern, wenn es in höhere Instanzen geht, sogar Jahre. In der Regel endet die Kündigungsfrist vor Abschluss des Verfahrens. D. h. der gekündigte Arbeitnehmer erhält ab einem bestimmten Zeitpunkt im Verfahren (unter Umständen sogar noch vor dem Gütetermin) nicht mehr den vollen Lohn, sondern nur noch Arbeitslosengeld.

Der Arbeitnehmer befindet sich also in folgender Position:

  • sein Arbeitsverhältnis wurde gekündigt
  • er muss eine neue Stelle suchen
  • er führt ein gerichtliches Verfahren gegen seinen Arbeitgeber
  • nach Ablauf der Kündigungsfrist sinkt sein Einkommen auf 60 %
  • sämtliche laufenden Kosten (Miete, Nebenkosten, Versicherungen, usw.) müssen weitergezahlt werden.

Ein gekündigte Arbeitnehmer befindet sich also, kurz gesagt, in einer wirtschaftlichen und psychischen Drucksituation.

Stärkung der Position des Arbeitnehmers

Die meisten arbeitsgerichtlichen Verfahren werden nicht durch eine Entscheidung des Gerichts, sondern durch eine gütliche Einigung zwischen den Parteien beendet. Der Hauptgrund hierfür ist, dass beide Parteien das Arbeitsverhältnis nicht mehr fortsetzen wollen, nachdem sie sich bereits gerichtlich auseinandergesetzt haben. Die Frage ist dann nur noch, unter welchen Bedingungen man sich einigt. Und da kommt es maßgeblich auf die Stärke der Positionen der Parteien an. Hier hat der Betriebsrat die Möglichkeit, die Ausgangslage des gekündigten Arbeitnehmers zu verbessern. Denn ein Arbeitnehmer, der einen Weiterbeschäftigungsanspruch hat und damit zumindest finanziell nicht unter Druck steht, hat eine stärkere Verhandlungsposition, als ein Arbeitnehmer, der nur Arbeitslosengeld erhält. Konkret bedeutet das, dass ein Arbeitgeber, der weiß, dass er den Arbeitnehmer gegebenenfalls noch mehrere Monate weiterbeschäftigen (also: bezahlen) muss, eher bereit sein wird eine (höhere) Abfindung zu bezahlen.

Fazit: Widerspruchsrecht im Kontext betrachten!

Betriebsratsmitglieder sollten sich also vor Augen führen, dass es sich bei der Anhörung nach § 102 BetrVG nicht nur um die bloße Mitteilung einer Meinung handelt. Vielmehr sind an die Reaktion des Betriebsrates erhebliche Folgen geknüpft, die für den gekündigten Arbeitnehmer im Zweifel große wirtschaftliche Bedeutung haben können. Der Betriebsrat sollte sich daher mit leichtfertigen Zustimmungen (á la „Es hat ja sowieso keine Auswirkung.“) zurückhalten. Es mag zunächst unbefriedigend sein, wenn ein Arbeitgeber sich über einen Widerspruch hinwegsetzt. Dieses Gefühl relativiert sich aber, wenn man sieht, wofür man den Widerspruch formuliert hat. Einerseits kann der BR freilich versuchen, die Entscheidung des Arbeitgebers durch den Widerspruch argumentativ zu beeinflussen. Viel wichtiger ist für den Arbeitnehmer aber, dass seine Position im Kündigungsschutzverfahren gestärkt wird.

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